Sehen und gesehen werden

von | Dez 10, 2020

Jeder von uns hat das Grundbedürfnis zu sehen und gesehen zu werden. Was meine ich damit? Der Mensch strebt danach, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Dazuzugehören. Andere zu sehen und gleichzeitig von ihnen wahrgenommen zu werden. Hierbei gibt es allerdings unterschiedliche Stufen. Zum einen das „Gesehen werden“, bei dem man als die Person gesehen wird, für den/die man gerne gehalten werden möchte. Dies bezeichne ich als ein oberflächliches gesehen werden.

Meinem aktuellen Verständnis nach kommt das daher, dass wir nach Idealen streben, die wir von der Außenwelt annehmen oder bewusst für uns setzen. Wir streben nach Anerkennung für unser Sein, für die Person, die wir sind. Hierbei herrschte für mich lange Zeit eine Diskrepanz zwischen dem, wofür ich gesehen, gelobt und belohnt oder missachtet wurde und dem, wofür ich tatsächlich gerne Ansehen erhalten würde.

Ich muss gerade über die Begrifflichkeiten schmunzeln, denn während ich sie hier so niedertippe, fällt mir die Bedeutung der Begriffe ganz klar auf. Jemandem „Achtung schenken“, ihr also Aufmerksamkeit schenken. Oder jemanden zu „missachten“, ihr also die Achtung entziehen. „Anerkennung“, jemanden also für das was sie getan hat oder ist erkennen. Spannend!

Weiter im Text. Nun habe ich oft unbewusst bereits mit einigen von den Konzepten gearbeitet. Ich kenne es aus dem Managementbereich. Menschen möchten Anerkennung erfahren. Für mich habe ich es so interpretiert und umgesetzt, dass die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, oder die ich in einem Team führe, von mir und den anderen in ihrem Sein gesehen werden möchten. In ihrem Wesen wahrgenommen werden wollen. Dies ist eigentlich sehr einfach umzusetzen: Hab die Intention dich wirklich für dein Gegenüber zu interessieren! Schau ihn/sie an, schau ihr/ihm in die Augen und hör zu. Geh auf das ein, was kommt. Geh mit dem, was kommt. Sei dankbar, dass diese Person sich dir mit ihrer Aufmerksamkeit widmet. So einfach ist das.

Nun merke ich im gleichen Moment, dass es gar nicht so einfach ist, wirklich und wahrhaftig zu sehen und gesehen zu werden. Dies meine ich nun auf einer tieferen Ebene. Mehr auf einer Wesensebene. Oder man mag sagen, auf einer Seelenebene. Warum dies schwierig ist?

Weil die wenigsten von uns darauf vorbereitet sind!

Weil wir gleichzeitig gesehen werden wollen, aber Angst haben vor dem, was sich zeigt. Bei mir selbst und meinem Gegenüber. Wir machen uns verletzlich.

Weil wir uns selbst vielleicht nicht in voller Gänze Lieben und Akzeptieren, uns selbst nicht ganzheitlich sehen und daher schon gar nicht zulassen können oder wollen, von anderen gesehen zu werden.

Dabei ist dies wunderschön!!

Emotional. Je nach Erfahrung und Moment. Bunt. Lebendig. Energetisierend und beruhigend zugleich.

Wie kannst du wahrhaftig sehen?

Indem du dich voll und ganz auf das einlässt, was ist. Szenario bezogen: Such dir einen Menschen, der bereit ist, das Gleiche zu tun, wie du. Setzt oder stellt euch einander gegenüber. Atmet tief ein und aus. Schließt für einen Moment die Augen, oder schüttelt euch. Versucht zu entspannen, im Moment anzukommen. Da zu sein.

Und dann versucht euch zu öffnen. Nicht zu bekämpfen was passiert, sondern einfach zu erlauben zu spüren, wie der Körper auf Blickkontakt reagiert. Schaut euch in die Augen und versucht da zu sein. Weiter zu atmen und euch zu öffnen. Das ist alles.

Meine Erfahrungen damit?

Es gab und gibt Momente, da wird es mir zu intensiv! Ich schaue weg, breche ab.

Das kann ich in meinem Alltag durchweg an mir beobachten, in verschiedensten Situationen. Zum Beispiel auf der Straße. Jemand kommt mir entgegen, dabei ist es meist egal, ob es sich um die liebe Oma von nebenan, oder einen attraktiv aussehenden Menschen eines anderen Geschlechts handelt, wir schaut uns ein Millisekündchen an, dann lächelt meist mindestens einer von uns krampfhaft, um keine Signale von Gefahr auszustrahlen, dann jedoch schauen wir beide meist peinlich berührt weg. Woanders hin. Warum? Weil es uns oft wie das Eindringen in die Privatsphäre der anderen Person vorkommt. So geht es mir zumindest. Meist ist dieser Kontakt ungefragt, er passiert aus dem Moment heraus. Das Gegenüber ist vielleicht gar nicht vorbereitet auf die Situation und man selbst vielleicht ebenso wenig. Es ist uns unangenehm. Oft zumindest. Gleichzeitig gibt es auch andere Tage. Tage, an denen ich positiv überrascht werde von anderen Menschen. Ich selbst versuche mich nämlich im Blickkontakt zu trainieren, mich darin zu verbessern, es zuzulassen. Mit Menschen, die ich mag, denen ich vertraue, kann ich dies viel extremer umsetzen. Eine mögliche Übung sieht wie folgt aus: Wir setzen oder stellen uns gegenüber (es funktioniert auch per Videocall übrigens) und schauen uns in die Augen. Das ist alles. Meist kann ich in meinem Körper unterschiedliche Emotionen aufkommen spüren. Von Peinlichkeit, Berührtsein bis hin zu Erregtheit oder einfach nur tiefer Liebe und Dankbarkeit. Mal auch Traurigkeit und Schmerz. Die unterschiedlichsten Dinge können sich zeigen. Das Verrückte ist, was ich bisher jedes Mal erlebt habe, dass nach einer Weile der bunten Emotionen meist Ruhe eintritt. Entspannung. Bei mir selbst und bei meinem Gegenüber ebenso. Wir finden Ruhe im Blick des anderen. Tiefe. Ein Gefühl von ‚Angekommen sein‘. Nichts verstecken zu müssen.

Oft schaffen ich oder mein Gegenüber es nicht, den Blickkontakt zu halten. In manchen Situationen habe ich es mir danach erlaubt oder ‚erzwungen‘ dort tiefer zu forschen. Mich selbst herausgefordert, durch diese Spannung hindurchzusehen, zu schauen, was kommt. So konnte ich meist verstehen, woran das lag. Mal war es Trauer und Schmerz, Gefühle für eine andere Person. Mal war es Scham, Scham über die Anziehung, die von der anderen Person auf mich ausging, die ich nicht eingestehen wollte.

Oft ist es einfach ein Schutz. Ein Schutz uns nicht zu verletzen, in dem was ist. Gleichzeitig verhindert es uns, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und uns in Tiefe verbunden zu fühlen. Mit anderen Menschen und ihren Seelen. Denn, das haben schon klügere Menschen als ich festgestellt: „Die Augen sind das Tor zur Seele“

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